
Plumtree, GNU-Lizenz, wikimedia
Horst Klarmann (redet sich in Rage):
Das ist doch so, wie’s ist: Fällt hier, in der großen Sandbüchse Norddeutschlands, das Wort ‚Heidedichter‘, dann leuchten bei den Älteren die Äuglein auf. Vor allem bei solchen, die sich irgendwann die Scheibe des besten Schützen im Dorf an ihren Giebel nageln durften. „Ach, Hermann Löns“, flöten sie ergriffen – obwohl doch die meisten wenig mehr als den einen oder anderen Gassenhauer von ihm kennen dürften.
Dietrich Biedermann (widerspricht)
Wenn er so unbedeutend ist, wie kommt es dann, dass alljährlich eine Heerschar von Anhängern zum Findling in Walsrode pilgert, wo sie seinem Andenken rhetorischen und musikalischen Tribut zollen? Also dort – wo einem allerdings unbewiesenen Gerücht zufolge – dieser Autor seine letzte Ruhe gefunden haben soll.
Horst Klarmann (spöttelt):
Ach ja, die Lodenfraktion! Gemeinsam munkeln sie dann dort herum, ob dem Leichnam tatsächlich ein Brief ihres Führers beigegeben wurde, der ja die Echtheit des Corpus mit seiner zweifelhaften Autorität beglaubigt haben soll. Sorgsam verlötet in einer geheimnisvollen Kupferrolle. Unbestritten aber verweste das, was von der neugegründeten Wehrmacht – so hieß die gute alte Reichswehr seit 1935 – was also an dieser ‚Weihestätte‘ einst feierlich bestattet wurde, das lag zuvor schon zwanzig Jahre auf den Schlachtfeldern Flanderns. Viel mehr als Knochen dürften da kam übrig geblieben sein. Die Erkennungsmarke passte auch so gar nicht zur Kompanie, und noch so einiges andere passte auch nicht. Die Identität ließe sich heute übrigens ganz leicht klären, jedenfalls seit in Hannover das Grab des einzigen Löns-Sohnes entdeckt wurde. Ein kleiner DNA-Test, und Echtheit oder Unechtheit wären wissenschaftlich geklärt.
Dietrich Biedermann (wiegt den Kopf):
Um den Streit ein für alle Mal zu entscheiden, wäre mir ein solches Verfahren schon recht – und sei es nur, um der Legendenbildung vorzubeugen. Vielleicht aber möchten sie nur die Totenruhe nicht stören? So aus verständlicher Pietät?
Horst Klarmann (grinst):
Tscha, zu einer Exhumierung wird’s wohl kaum kommen. Die Stadt Walsrode gefährdet ihre touristischen Einnahmen doch nicht. Wie dem auch sei – mir erscheint schon die Bezeichnung ‚Dichter‘ für Hermann Löns unangemessen. Der Mann verbrach schließlich haufenweise solche Zeilen:
„In der Lüneburger Heide,
in dem wunderschönen Land,
ging ich auf und ging ich unter,
allerlei am Weg ich fand –
falleri, fallera, und juchheirassa
bester Schatz, bester Schatz,
denn du weißt es, weißt es ja!“
Dietrich Biedermann (trommelt dabei, dem Rhythmus folgend, auf den Tisch):
Und was soll daran schlimm sein? Diese Verse kennt doch jedes Kind. Sie sind sozusagen Allgemeingut, zumindest hier in Nordwestdeutschland. Ein Lied, das jeder kennt …
Horst Klarmann (schaut entnervt):
Eben! Solch trällerndem Silbengeklimper kann doch kein sprachbewusster Mensch das Zeugnis einer Dichtung ausstellen. ‚Wunderschön‘, ‚aufgehen‘, ‚untergehen‘ – wo passiert das denn bitte, etwa im Sandmeer? – dazu ‚allerlei‘ und ‚juchheirassa‘. Das ist bloßes Wortgeklingel um des Reimes willen. Kein anschauliches Bild der Lüneburger Heide wagt sich da noch vors innere Auge. Dem Hermann Löns fehlte schlicht die wichtigste dichterische Zutat, die Gabe der Bildhaftigkeit, oder der Evokation, um mich mal wissenschaftlich auszudrücken. Ein Reim macht noch kein Gedicht! Dazu gehört schon ein bisschen mehr. Wohin man fasst, ist der Befund derselbe. Der Mann hätte besser Schlagertexter werden sollen:
„Rose-Marie, Rose-Marie,
Sieben Jahre mein Herz nach dir schrie,
Rose-Marie, Rose-Marie,
Aber du hörtest es nie“
Hermann Löns, der Schürzenjäger, wie er mal wieder sein Herz mit seinem Schniedelwutz verwechselt – im ‚Musikantenstadl‘ könnte er damit heute Erfolg haben. Vom Parnass der Dichtung aber würde ihn der Götterrat schlicht hinabschubsen.
Dietrich Biedermann (rollt die Augen):
Du sprichst dem Hermann Löns also jedes Verdienst ab? Was ist mit dem ‚Mümmelmann‘ und den großen Tiergeschichten? All jenen Texten, wo er Partei für die Natur nimmt?
Horst Klarmann (winkt ab):
Ich will ja gar nicht bestreiten, dass der Hannoversche Saufaus und Schickimicki-Dandy sich als Journalist und Prosaiker verdient gemacht hat – zum Beispiel um Beschreibungen des Tierverhaltens und sogar um den frühen Naturschutz. Aber selbst hier ging es ihm letztlich mehr um zivilisatorische Einschränkungen seines Jagdreviers. Die Kiefernwälder und Ackerraine waren sein Dschungel, der Ort, wo er sich als Urmensch fühlte. Er hasste vor allem die Zersiedelung des Landes, den Straßenbau, noch mehr aber die Treib- und Drückjagden, wo bequemen Herren aus der Stadt die Zwölfender unverfehlbar vor die Flinte getrieben wurden. Das ist ja das große Missverständnis: So wie die Jagd heute betrieben wird, mit Treibergeschrei oder vom Hochsitz herab, da war sie dem Hermann Löns schlicht ein Graus. Trotzdem versammeln sich alle deutschen Jagdvereine an seinem Grab und tuten unverdrossen ins Waldhorn. Apropos – vor seiner Satire auf das Hofschranzentum im Duodez-Fürstentum Bückeburg ziehe ich sogar meinen Hut. Der Text fehlt bezeichnenderweise in allen staats- und adelstreuen Werkausgaben. Aber der ‚Wehrwolf‘ ist ein brutaler Mist – das ist bloß ein Sado-Maso-Roman im bäuerlichen Milieu. Die Helden dort gleichen eher heutigen Reichsbürgern, mit dicken Knütteln in der Hand … Anarchie auf dem flachen Land.
Dietrich Biedermann (grinst ironisch):
Gut, ich verstehe: Wir hätten also gar keinen Heidedichter vor uns, sondern einen Reimeschmied, dem gelegentlich in Prosa etwas glückte …
Horst Klarmann (lächelt überlegen zurück):
Klar haben wir einen Heidedichter. Der heißt bloß nicht Hermann Löns. Wenn ich das Wort ‚Heidedichter‘ höre, dann fällt mir eben nicht dieser Großstadt-Dandy ein, sondern Arno Schmidt, der Eremit von Bargfeld. Allenfalls ein gewisser Alkoholismus verband die beiden. Auch, dass sie beide fern von Niedersachsen, tief im Osten, aufgewachsen sind …
Dietrich Biedermann (tippt sich an die Stirn):
Der Arno Schmidt ist für mich absolut unlesbar … allein seine krause Schreibweise. Eine Handlung suchte ich bei meinen Expeditionen oft vergebens, dazu die ständigen Anspielungen auf Texte, die allenfalls Spezialisten noch kennen, das Ganze dann zu einer wilden Zettelwirtschaft zerfleddert – bäh!
Horst Klarmann (regt sich auf):
Jaja, wenn stumpfe Köpfe auf die Avantgarde treffen! Lassen wir doch mal die Kollegen zu Wort kommen: „Eigentlich las ich nur Arno Schmidt“, sagt Martin Walser: „Mit der anderen Nachkriegsliteratur, die jedes Adjektiv verachtete, konnte ich nichts anfangen.“ „Wir haben doch alle bei ihm gelernt“, ergänzt dies Statement ein Günter Grass. Und Walter Kempowski schreibt: „Ohne den Einfluss dieses großen Mannes ist meine eigene Arbeit nicht zu denken.“ Dies sind nur drei Zeugnisse von vielen. Auch Alfred Döblin und Hermann Hesse waren Förderer des Frühwerks. Nee, nee, wer den Rang dieses Monolithen, der dort riesengroß und unvergänglich aus unserer Heide ragt, wer dessen Stellenwert nicht anerkennt, der versteht einfach nichts von Literatur! Nenn mir doch mal ähnliche Zeugnisse für Hermann Löns, den jagdbesessenen Schlagetot mit der journalgerechten Kleinkinder-Lyrik?
Dietrich Biedermann (legt ihm begütigend die Hand auf den Arm):
Nun krieg dich mal wieder ein. Ich nehme mal an, die Zitate stimmen alle. Ein wahrhaft großer Mann, das sehe ich dann ein. Trotzdem bleibt für mich die Frage, weshalb du den Arno Schmidt ständig als Heidedichter titulierst?
Horst Klarmann (lässt sich nicht beruhigen):
Weil nahezu alles, was Arno Schmidt im Frühwerk schrieb, in der Lüneburger Heide spielt, auch wenn er diesen Namen nicht ständig aufs Papier klotzt. Selbst da noch, wo er die Handlung auf den Mond verlegt, wie in ‚Kaff – oder Mare Crisium‘. Da blitzt doch ringsum immer nur unsere Heidelandschaft durch den lunaren Firnis. Wobei ihm metaphorisch, also bildhaft, die Heide zugleich ein Symbol für deutsche Zustände wurde. Wie im Kleinen, so im Großen. Gut, mit Ausnahme der ‚Seelandschaft mit Pocahontas‘ vielleicht. Da hat er sich mal ein Wochenende Auszeit am Dümmer See gegönnt. In den ‚Schwarzen Spiegeln‘ taucht auch mal Hamburg auf. Es gibt ferner jene Texte, wo er auf klassische Themen zurückgreift. Aber sonst? Das ganze frühe literarische Werk mit all seinen Landschaften ist eine einzige Heidedichtung.
Kurzum: Arno Schmidt errichtete unserer Region ein Monument, neben dem das Löns’sche Juchheirassa wie ein putziges Puppenhaus wirkt. Zeilen wie diese entstanden, weil Arno Schmidt die Heide so sah, wie sie wirklich war: „Regen verglaste das Fenster; die Bäume bei der Kirche bewegten ratlos die Äste, bogen sich ratlos um die Ecken, schlugen ratlos in die Restblätter : naß, schwarz, unerbittlich zäh war die Rinde über das vertrackte Wesen gezogen : nackte Eichen sind etwas Furchtbares. Der Himmel wälzte sich grau von Westen heran, immer drüber.“ Und so tausendfach! Das sind Gedichte in Prosaform! Wer hier nicht eine unserer eichenumstandenen Heidekirchen aus rotem Backstein vorm inneren Auge sieht, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Allerdings – bei Arno Schmidt ist die Lüneburger Heide nur höchst selten jenes „wunderschöne Land“, wovon uns der Hermann Löns tiriliert. Kitsch und Romantik lagen dem Arno Schmidt so fern wie die Sonne der nächsten Galaxie. Jedes verbale Hoppsassa löste bei ihm Brechreiz aus und gab ihm Gelegenheit zu ätzender Satire.
Dietrich Biedermann (belustigt):
Aber gelesen wird er trotzdem kaum … jedenfalls kenne ich niemanden, der die Schmidt’schen Bücher im Regal stehen hätte.
Horst Klarmann (breitet gottergeben die Hände aus):
Das muss an deinem Umgang liegen. Ein Volksdichter ist er sicherlich nicht geworden – nicht jeder Mensch taugt zum Bergsteiger. Eher ist er schon ‚der deutsche James Joyce‘, als den ihn manche betrachten. Trotzdem sind seine Bücher inzwischen millionenfach gedruckt worden; ganze Generationen von Wissenschaftlern bissen sich an seinen Rätseln, Zitaten und Anspielungen die Zähne aus; ein Jan-Philipp Reemtsma leitet die Arno-Schmidt-Stiftung, wo auch die historisch-kritische ‚Bargfelder Ausgabe‘ erscheint; ringsum ist die Welt übersät mit Sekundärliteratur und Vereinen, nicht zuletzt die verdienstvolle ‚Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser‘; Raubdrucke begleiteten seine Laufbahn. Bei dem anderen, beim Hermann Löns, hat es bis heute noch nicht einmal zu einer anständigen Werkausgabe gereicht. Da bläst nur – „Jotoho!“ – alljährlich das Waldhorn am Findlingsgrab. Das Problem beim Arno Schmidt ist ja auch ein anderes …
Dietrich Biedermann (schaut auf):
Und das wäre?
Horst Klarmann (sammelt sich):
Arno Schmidt stand immer quer in der sozialen Landschaft. Er blieb gewissermaßen immer der arme Vertriebene, als den es ihn nach dem Krieg in die Heide verschlug. Dadurch bewahrte er sich den ‚Blick von außen‘ auf die Menschen und die Zustände hier. Und was er sah, das war nicht immer schön. Die Heiligsprechung des Bauern, wie sie ein Hermann Löns betrieb, die lag ihm fern. Er sah die Erbarmungslosigkeit, die ledernen Herzen, den allgegenwärtigen Betrug. Ihm waren die Bauern nicht der ‚Blutadel des deutschen Volkes‘, wie es einst der Führer verkündet hatte, sondern oft genug ‚Blutegel des deutschen Volkes‘. So sah er übrigens nicht nur die Heidjer, sondern zunehmend so ziemlich alle Menschen. Bei all dem aber war er aber kein Kommunist, kein SPD-Anhänger, oder gar ein ‚Systemveränderer‘. Er war schlicht ein Atheist und Menschenkenner – und damit notwendigerweise ein Menschenfeind -, dem dank uferloser Lektüre umstandslos alle Worte zu Gebot standen. Notfalls schuf er sich neue. Und ein Endzeitler war er auch … überall witterte er die große ‚Verschweinung der Welt‘. Am liebsten hätte er die Zeit zurückgedreht, notfalls bis ins Neolithikum, wie auch der geistesverwandte Gottfried Benn. Die anderen, die sich ihr Heiapopeia bewahren wollten, sahen das natürlich anders als er. Prompt machten ihm die Wahrer von Sitte und Anstand den Prozess. Sie nannten ihn einen Pornographen und Gotteslästerer. Anlass waren ein paar Pocahontas-Zeilen, die heute unbedenklich in jedem Schulbuch stünden. Tschaja …
Dietrich Biedermann (sammelt sich):
Und? Ist er denn auch verurteilt worden?
Horst Klarmann (lacht):
Seine Prozessakten sind ein Lesevergnügen ganz eigener Art. Diejenigen vom ersten Prozess liegen heute in Walsrode. Der Rechtsanwalt Peter Rabe aus Rethem hat mir mal eine Kopie davon zur Verfügung gestellt. In Cordingen wurde damals der vertriebene Schriftsteller mit seiner Frau Alice in einem Zimmerchen auf dem Mühlenhof einquartiert. Der Streit ging um Möbel, die dort verblieben waren, und ob er die Zahlung einer ausstehenden Miete dafür zu leisten habe. Letztlich ging es um 200 Mark, noch um Reichsmark wohlgemerkt. Auf der einen Seite stand der darob höchst empörte Schriftsteller, auf der anderen ein reichlich schnöseliger Rechtsanwalt namens von Nottbeck, der sich für etwas Besseres hielt als so’n ungewaschener und hungerleidender Schreiberling. Der könne durch ruhig mal Holzhacken gehen, empfahl er ihm. Der ganze Rechtsstreit eskalierte, als dann Arno Schmidts Tandem gepfändet wurde, sein einziges Fortbewegungsmittel zu jener Zeit. Hier ein Auszug aus der Schlammschlacht um des Kaisers Bart. Nottbeck schreibt: „In jener Notzeit ist es dem Beklagten gut gegangen; als Angestellter der Hilfspolizei hat er für seine anscheinend schwere Arbeit zusätzlich Lebensmittelkarten erhalten. Er hat ferner die ihm reichlich aus Amerika zufließenden Pakete verkaufen können (die Klägerin ist zu delikat, um den Zigarettenverkauf zu je 5 Rmk als ‚schwungvollen Handel‘ zu bezeichnen!). In der Küche der ‚auf großem Fuß‘ hungernden Klägerin hat der Beklagte damals gebruzzelt und geschmaust wie ein Freier aus Ithaka, ohne auch nur einmal an die darbende Klägerin zu denken“. Wild ging es hin und her – letztlich zahlte Schmidt von seinem ersten großen Literaturpreis dann die Klägerin aus.
Dietrich Biedermann (schüttelt den Kopf):
Der Großschriftsteller als Zigarettenhöker von Cordingen – seltsame Vorstellung …
Horst Klarmann (nickt ihm zu):
Arno Schmidt hatte eine zwangsemigrierte Schwester in Übersee, die in der Weimarer Zeit einen Juden geheiratet hatte. Die unterstützte ihn gelegentlich mit Care-Paketen. In ‚Brand’s Haide‘ gibt er übrigens eine Schilderung davon, wie diese Verteilung verlief – Kaffee, Zigaretten und Kakao als Tauschobjekte bei den umliegenden Bauern für dringend benötigtes Essbesteck, für Tassen, Untertassen usw. Der zweite Prozess war da schon gefährlicher als diese Klamotte.
Dietrich Biedermann (zurückgelehnt):
Geht’s noch armenhäuslerischer und erbärmlicher?
Horst Klarmann (schüttelt den Kopf):
Diesmal ging’s nicht um materielle Dinge. Adenauer-Regierung und Kirche hatte den Lästerer aufs Korn genommen, wegen angeblicher Blasphemie und Pornographie. Im Zentrum stand sein Dümmer-See-Roman ‚Seelandschaft mit Pocahontas‘. Solche Prozessions-Bilder im Buch regten die Bigotten auf, vor allem natürlich die Katholiken: „Gestalten mit wächsernem queren Jesusblick, Kreuze wippten durcheinander, der suwaweiße Gürtelstrick (mit mehreren Knoten, ob das ne Art Dienstgradabzeichen ist?)“. Die Porno-Detektive der Wirtschaftswunderzeit wiederum holten sich mittels solcher Stellen erregt einen runter: „Lauf brünieren lassen, dass a nich in der Sonne blitzt!“ fügte er, alter Frontsoldat, hinzu, und zog die Badehose noch tiefer, wahrscheinlich, um keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen, dass er männlichen Geschlechtes sei.“ Von der Prüderie und Verlogenheit jener Adenauerzeit macht sich heute niemand mehr eine Vorstellung. Gefahr drohte jedenfalls. Der Verleger der ‚Texte & Zeichen‘, wo ‚Pocahontas‘ erschienen war, verdrückte sich in die Büsche und schob alle Schuld auf den Redakteur, also auf Alfred Andersch, und natürlich auf den Autor Arno Schmidt. Auch die eigentlich treibenden Kräfte der Anzeige wollten lieber nicht genannt sein, und schoben zwei Rechtsanwälte namens Panzer [sic!] und Weimann an die Front. Letztlich wurde das Verfahren eingestellt, weil es sich bei der ‚Seelandschaft‘ um große Kunst gehandelt hätte, wofür ja einige Indizien sprachen, vor allem aber alle literaturwissenschaftlichen Koryphäen.
Dietrich Biedermann (pocht mit dem Finger auf den Tisch):
Gut! Das war jetzt die große Politik. Aber wo bleibt dein Heidedichter? Bloß, weil er in Cordingen gegen seine Hauswirtin klagte, qualifiziert ihn das doch nicht zum Sänger unserer Lüneburger Heide?

Heidemoor, (Willow, GNU-Lizenz, wikimedia)
Horst Klarmann (lächelt überlegen):
Du kennst eben zu wenig von ihm. Schon während seines Darmstädter Interregnums klagte er über das, was ihm fehle: „(I)ch bin entscheidend angewiesen auf Flachland, Heide, Wiese, Sumpf meinetwegen, ein paar Bäume, langsame Gewässer, leere weite Horizonte, Einsamkeit“. Und – als dann die Möglichkeit ‚Bargfeld‘ konkreter wurde – schrieb er sehnsuchtsvoll: „Ein Haus in Haide und Moor wär‘ eben doch was Feines: 1 gipserner Zenith, 100 alte Scharteken: da sollten die Kerls mal sehen, was Landschaftsschilderung heißt!“ Arno Schmidt war also das Gegenteil eines urbanen Menschen, er war ein Dörfler durch und durch, auch wenn er sich über den ländlichen Menschenschlag keine Illusionen machte: „Ich war gleichzeitig mit in Bargfeld (einem Ort, 20 km nordöstlich von Celle). / Alles Nazis (= 70 % der Bevölkerung). Der Gastwirt trug militärische Schirmmütze; und sagte kalt: „In ‚roten Kreisen‘ liest man die Hannoversche Presse“!
Dietrich Biedermann (wiegt den Kopf):
Und in einem solchen Schlangennest wollte er sich niederlassen? Dumpfheit ringsum, weit und breit kein Mensch, mit dem man über Literatur sprechen konnte?
Horst Klarmann (grinst):
Im Grunde entsprach so etwas seinem Naturell. Er war nur leider zu intelligent für solch ein Leben, er war zum „Gehirntier“ geworden – aber jene stille und unerfüllbare Sehnsucht, zu verblöden, die hatte er schon: „Was ist demnach das beste Rezept für ein Erdenleben überhaupt, oben wie unten?: ‚Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten. Kirche gehen. Wenn n großer Mann in der Nähe auftaucht, in n Stall verschwinden: dahin kommt er kaum nach!“ Du siehst, Arno Schmidt war zugleich auch ein großer Humorist, in vielem wohl ein Nachfolger von Fritz Reuter oder auch von Wilhelm Busch.
Dietrich Biedermann (lacht sich scheckig):
Gut, das sind die Heidjer, aber was ist nun mit der versprochenen Heide?
Horst Klarmann (rückt sich zurecht):
So ziemlich alles! Wenn überhaupt eine Begabung aus einem widersprüchlichen und vielseitigen Großschriftsteller wie Arno Schmidt hervorsticht, dann ist es seine Fähigkeit zur Naturbeschreibung. Er ist ein Schamane einer ‚haidnisch‘ verklärten Natur, ein Mann, der die Bilder unserer Heidelandschaft ganz unmittelbar aus den Zeilen hervorruft, und sie uns bis zum Anfassen vors innere Auge führt. In diesem Punkt übertrifft er Goethes Naturlyrik, auch Rilke, Lenz, Stifter, und wie sie alle heißen. Da reicht ihm niemand das Wasser. Und meist ist es die Lüneburger Heide, die er derart magisch heraufbeschwört – in tausenderlei Gestalt, aber immer auf Anhieb kenntlich.
Dietrich Biedermann (guckt verwirrt):
Du kannst mir ja viel erzählen. Hast du auch Beispiele?
Horst Klarmann (lacht):
Hundertfach. Hier eine spätherbstlich bereifte Eisenbahnfahrt von Walsrode Richtung Süden: „Gegen Morgen wurde unsere Fahrt reißender. Kiefernkrüppel tauchten aus weißen Mooren, Pfützen rannten auf Schlangenwegen vorbei; viele Birken schwebten hinten durch die Haide. Am Kreuzweg hielt ein Fremder mit beiden Handschuhen sein starres Rad; reifige Plankenzäune galoppierten noch einmal ein Stück mit; dann riefen die Wälder wieder Amok über uns.“ Oder hier die Schilderung eines Spaziergangs in seiner Cordinger Zeit: „Bauernwege über Hügel : der Sand war mattgelb aber fest, und die zwei tiefen Geleise störten noch nicht; auch war ich bald oben und sah, wie die schweren Waldwellen nach allen Seiten hin sanken : war nur Glanz und Grün in vielen Stärken (…) Die Wagenspur verbog sich in rechte Belanglosigkeit : auch war der klare dünnvergraste Weg schöner; die Kiefern bogen oben rote gesunde Ringerarme, grünbehaarte; ich wehte langsam im goldgestreiften Schweigen, das schöner ist, als viele Vernunft.“ Und so tausendfach, alles viel unmittelbarer und bildprächtiger als der übliche Allerweltsschnack à la ‚Grün ist die Heide‘. Willst du noch mehr hören von dieser Schmidt’schen Wortmusik, welche die Lüneburger Heide wahrhaft zum Leben erweckt, ganz ohne Löns’sches Falleri und Fallera?
Dietrich Biedermann (lächelt):
Rote Ringerarme an den Kiefern, mattgelber Sand – ja, das ist eindeutig unsere Heide. Aber der andere, der Löns, der konnte so etwas doch auch?
Horst Klarmann (ärgerlich):
Ach wat! Das ist größtenteils Journalistendeutsch, nicht der Rede wert. In einem Text, dazu noch unter dem Titel ‚Auf der Heide‘ verfasst, steigt er beispielsweise so in die Naturbeschreibung ein: „Unmerklich geht das Moor in die Heide über, der Boden hebt sich langsam, statt der Moorbirken treten krüppelige Kiefern auf, und an Stelle des Riedes und der Wollgräser herrscht das Heidekraut.“ Allein diese schwachen Verben – ‚übergehen‘, ‚auftreten‘, ‚herrschen‘! Das Heidekraut herrscht ja nicht, das kröpelt bloß auf trockenem Sand herum, weil dort nichts anderes wachsen mag – oder weil alles andere die Heidschnucken zerrupfen. Diese Löns’sche Sprache ist nicht nur ärmlich, die ist oft schon erbärmlich arm. Nichts tritt uns vor Augen. Den Löns interessiert ja weniger die Landschaft, sondern ganz etwas anderes, seine Naturphilosophie nämlich, im Kern ein missverstandener Darwin: Die Kreuzspinne frisst im Text die Fliege, der Raubwürger die Libelle usw. Es ist der ewige ‚Kampf ums Dasein‘, den er hier zu erblicken wähnt. Am Ende breitet er dann wieder im Pastoralstil ein Spitzendeckchen über seinen literarischen Ziertisch voll gediegener Nippes-Philosophie: „Nicht das, worauf wir bewußten Blicks die Augen richten, wirkt am stärksten auf uns; vieles, über das unsere Aufmerksamkeit hinweggleitet, spricht doch zu uns, hinterläßt Eindruck auf Eindruck, erweckt eine heitere Stimmung, ein beschauliches Gefühl in uns, läßt uns, ohne daß wir es ahnen, den Tag schöner finden und das Leben leichter tragen.“ Das also, was wir nicht wahrnehmen, hinterließe Eindruck auf Eindruck? Wie das? Der Mann kann einfach nicht denken! Jener betuliche Schluss steht ferner am Ende eines Textes, der zuvor den unaufhörlichen Mord in der Natur beschwor. Der Mann ist oft bloß geschwätzig, er hätte vielleicht Trauerredner werden sollen! Journalist passt allerdings auch …
Dietrich Biedermann (kichert):
Das hat tatsächlich bestenfalls Courths-Mahler-Niveau. Hat der Arno Schmidt eigentlich irgendwann mal über seinen Vorgänger in der Rolle des ‚Heidedichters‘ geschrieben?
Horst Klarmann (winkt ab)
Nö, in der ‚Tina‘ findet sich eine Bemerkung, dass ein Mann ein Löns’sches Gesicht zur Schau getragen hätte. Und die ‚Süddeutsche‘ fragte wegen eines Radio-Essays über den wilhelminischen Schwerenöter bei ihm an, woraufhin Arno Schmidt den Münchnern ziemlich wegwerfend absagte: „SgHDr.G. ich bin zur Zeit so in eine eigene intrikate Arbeit vertieft, daß ich Ihnen die gewünschte Arbeit über Löns beim besten Willen nicht schreiben könnte, selbst wenn mich das Thema reizte – was es nicht tut.“ Dabei hat Arno Schmidt durchaus andere Zweitrangige, wie beispielsweise den Nordmann Gustav Frenssen, in seinen Radio-Dialogen höchst fein ziseliert. Da gab es also keinerlei Interesse, trotz des gleichen Bodens, auf dem sie standen.
Dietrich Biedermann (überlegt):
Aber die Bauernfiguren bei Hermann Löns – die waren doch zumindest aus kernigem niedersächsischen Holz geschnitzt, oder? Von lebensechtem Schrot und Korn?
Horst Klarmann (tippt sich die Stirn):
Nur, wenn du den kaiserdeutschen Klingklang mit der niederdeutschen Sprache verwechselst. Solche Bauern, wie sie Hermann Löns im ‚Wehrwolf‘ auf die Bühne schubst, die wurden in Niedersachsen nie gesichtet, weder gestern noch heute. Hör dir den Löns’schen Sound ruhig mal an: „Der Bauer lachte: ‚Aber da wir doch gerade vespern wollen, und mehr bei uns haben, als wir brauchen, und ihr nicht aussehet, als hättet ihr heute schon satt gekriegt, so könnt ihr mittun, wenn ihr dazu Lusten habt.“ Hat je ein Heidjer so geredet? Wie gerät süddeutsches Vokabular wie ‚vespern‘ so tief ins Niederdeutsche? Seit wann reden Bauern im Konjunktiv? Und wann hätte solch ein bräsiger Scholleninhaber jemals etwas freiwillig geteilt? Nee, nee, nee – das sind alles keine Heidjer, die beim Löns durch die Zeilen laufen, das sind Kunstfiguren in der Tradition von Auerbach oder Ganghofer. Wobei letzterer immerhin noch den bayrischen Tonfall beherrschte. Ab und zu streut Löns mal eine niederdeutsche Vokabel ein – aber das war‘s dann auch schon.
Dietrich Biedermann (wiegt den Kopf):
Und bei Arno Schmidt wäre das anders? Der schreibt doch eine Orthographie, bei der kein Mensch mehr durchblickt. Das ist alles, nur kein Plattdeutsch.
Horst Klarmann (faltet die Hände vorm Bauch):
Das geschieht ja gerade deshalb, um den Tonfall exakt zu treffen – oder eine hintersinnige Wortbedeutung aufscheinen zu lassen, die noch keinem je aufging. Arno Schmidt wendete ein geradezu phonologisches Verfahren an, das dem Sprachklang wie auch der Pausenwirkung überaus viel Aufmerksamkeit schenkt. Manches muss man sich sogar laut vorlesen. Ein Grund unter vielen, weshalb es von Arno Schmidt derartig viele Hörbücher gibt: „Au’mblickbidde“, „Könn‘ Se in – : ain-sswei Stunn‘ wiedakomm?“, „Un völ=lich gegen Osswinn geschützt!“, „Na, bessahlt hattaja in Vohr=aus“, „Loot man ween“, „Gieb ma ma drei Maak“, „Ich hab noch ne große Wiese : auf’e Aller zu : von mein Vader her“ – so zieht sich das endlos hin. Dies sind nur einige mundartliche Ausdrücke aus drei Seiten im ‚Steinernen Herz‘. Der große Irrtum ist es ja, zu glauben, dass die Landbevölkerung an der Aller entweder plattdeutsch oder perfekt ‚goetheanisch‘ parliert hätte. Das ist völliger Quatsch! In den 50er Jahren wurde hier so eine Art Missingsch gesprochen: Um ein bereits hochdeutsches Sprachgerüst rankte sich der leicht bräsige Heidjer-Tonfall, oft auch alkoholisch beseelt, den Schmidt meisterlich aufs Papier übertrug.
Dietrich Biedermann (lacht):
Woart, ik wull di gliecks wat! Wo spielt denn das alles überhaupt? Irgendwo an der Aller, so viel habe ich kapiert.
Horst Klarmann (grinst zurück):
Dieser Ort heißt Ahlden, später geht es im Roman dann ab nach Berlin. Wie mit dem James Joyce in der Hand durch Dublin, so könntest du mit dem ‚Steinernen Herzen‘ in der Hand einen Rundgang durch das Aller-Städtchen machen. Es ist gewissermaßen ein literarischer Stadtplan, bei dem nur weniges zeitbedingt nicht mehr stimmt. Die Ahldener haben sogar am Spritzenhaus einen kleinen Hain mit einer Arno-Schmidt-Gedenk-Stele errichtet. Die ist allerdings inzwischen arg moosbewachsen, obwohl alljährlich viele Fans des großen Dichters in Ahlden übernachten. Der Flecken macht zu wenig Rummel um seine literarische Bedeutung. Da hat das geschäftstüchtige Walsrode mit dem Löns ihnen viel voraus. Überall wehen dort die Deutschlandfahnen, dazu bunte Wimpel, glitzernde Orden und ‚Falleri‘ und ‚Fallera‘. Ringsum Waldhorn-Getute.
Dietrich Biedermann (runzelt die Stirn):
Schade eigentlich. Wem würdest du denn welchen der beiden Heidedichter empfehlen.
Horst Klarmann (überlegt kurz):
Wenn’s dir um ideologische Klarheit geht, also nicht um sprachliche Anschaulichkeit, sondern um die innere stramm nationale Haltung eines wahrhaft deutschen Dichters, wenn du die Jagd, das Mann-Sein, den Pulverqualm und die Insektenkunde liebst, dann bist du bei Hermann Löns völlig richtig. Du triffst auch alljährlich viele Gleichgesinnte, mit denen du trefflich kannegießern kannst. Magst du aber gerade dies Ideologische nicht, sondern eher den Sarkasmus, die Ironie, die Bildhaftigkeit, den Wortwitz, das Wegwerfende, die Frechheit, und auch das Deftige, dann greife zu Arno Schmidt. Dem Mann war – weiß Gott – nichts heilig, außer vielleicht der James Joyce, auch ein Fritz Reuter, ein Wilhelm Raabe, ein Jean Paul, ein Edgar Allan Poe, und sonst noch so einige, die heute nur Spezialisten noch kennen. Politisch aber traf alle sein Bannstrahl, und zwar von oben herab – die alten Nazis wie die Kommunisten, die SPD wie die CDU. Den Fortschritt verhöhnte er ebenso wie das gelobte Wirtschaftswunder. Die Kirche wurde so verlacht wie der Journalismus – und die Rechtsanwälte sowieso. Ein angenehmer Zeitgenosse war dieser Eremit sicherlich nicht.
Dietrich Biedermann (bestellt zwei weitere Biere):
Für so viel Feindschaft hat er aber erstaunlich wenig Ärger gehabt.
Horst Klarmann (nickt):
Das stimmt. Ihn schützte aber auch sein literarischer Rang. Der Mann hat sich einfach hinter seinen Büchern und hinter seinem Stil verbarrikadiert, so wie in Wilhelm Raabes ‚Stopfkuchen‘ der dicke Schaumann auf der roten Schanze. Übrigens, auch so’n Niedersachsen-Roman … aber ich schweife ab.

Das alte Brauhaus in Ahlden, Public Domain
Der Beitrag Zwei Heidedichter – einer bleibt’s erschien zuerst auf Stilstand.